Montag 25.08.2025
Früh hatte ich meine sieben Sachen zusammengepackt, noch kurz gefrühstückt und dann aus dem Hostel ausgecheckt. Am Ortsausgang von El Calafate muss ich nicht lange warten, bis ein schwarzer Peugeot anhält. In ihm sitzen ein Mann mittleren Alters und eine junge Frau. Waldemar und Ola kommen aus Polen, sind im Urlaub hier und genau wie ich auf dem Weg nach El Chaltén. Gemeinsam biegen wir auf die „Ruta 40“ ab, die von hier aus parallel zu den Anden verlaufend in Richtung Norden führt. Alle paar Kilometer bremst Waldemar ab, um die zahlreichen am Straßenrand stehenden Guanakos zu fotografieren – irgendwann müssen wir dann nicht mehr für jedes, sondern nur noch für jedes fünfte der Tiere anhalten. Auf etwa halber Strecke – gerade als am Horizont die ersten schneebedeckten Berge auftauchen – beginnt im Auto die Reifendruck-Warnleuchte zu blinken. Wir kehren zurück zu einer kleinen Farm, leihen uns dort einen Kompressor und trinken noch einen Kaffee, dann geht die Fahrt weiter. Auf den letzten Kilometern halten wir noch einmal an, genießen das Bergpanorama und beobachten eine am Straßenrand entlangziehende Guanako-Herde sowie einen Condor, der am Himmel seine Bahnen zieht. Um halb drei erreichen wir das Besucherzentrum am Orteingang von El Chaltén. Ein Ranger erklärt uns kurz und knapp die Regeln: Alle Trails seien grundsätzlich das ganze Jahr über offen und ohne Guide begehbar, die Campingplätze im Nationalpark kostenlos und auch Eintrittsgebühren würden außerhalb der Saison keine anfallen – ein Traum! Da mich um 15:00 Uhr eine Nachhilfeschülerin erwartet, verabschiede ich mich von Waldemar und Ola, die eine kurze Wanderung machen und dann noch heute Abend nach El Calafate zurückkehren würden, und setze mich mit guter Aussicht auf eine der Picknick-Bänke vor der Ranger-Station. Im Anschluss an die Nachhilfestunde, mache ich mich auf die Suche nach einer Bleibe. Ich klappere einen Campingplatz nach dem anderen ab, in der Hoffnung einen offenen zu finden. Nach zwei Stunden hin und herlaufen, kenne ich jede der Straße der Stadt und kann mit Sicherheit behaupten, dass keiner der acht Campingplätze in dem kleinen Ort geöffnet wäre. Mist! Online entdecke ich schließlich ein preiswertes Bett in einer „Cabaña“, einer kleinen einem Bungalow ähnlichen Holzhütte zur Touristenbeherbergung.
Dienstag 26.08.2025
Am frühen Morgen ist das Wetter noch herrlich, aber das soll sich dem Wetterbericht zufolge im Laufe des Tages ändern: Den Nachmittag und Abend über soll es regnen – womöglich sogar schneien. Die noch trockenen Stunden des Vormittags nutze also ich für eine kurze Wanderung zu zwei nicht weit außerhalb des Ortes gelegenen Aussichtspunkten, von denen man einen netten Ausblick über El Chaltén und die umliegende Berglandschaft hat. Kurz nachdem ich zurück in der Cabaña bin, zieht eine dunkle Wolkenwand am Horizont auf – wenig später beginnt dann der Regen. Den restlichen Tag über sitze ich in der kleinen Holzhütte fest. Ich schreibe ein wenig an meinem Blog und gucke ein YouTube-Video nach dem nächsten, bis mir auch darauf die Lust vergeht. Gesellschaft leistet mir ein junger Spanier, mit dem ich mir die Cabaña teilte. Er war für ganze zwei Monate hierhergekommen, um Skifahren zu gehen. Da es rund um El Chaltén allerdings keinen Skilift gibt, besteht sein Hobby letztendlich daraus mit kompletter Skiausrüstung auf dem Rücken zu den Schneefeldern in den höheren Bergen zu wandern, um diese dann wieder ein Stück herunterfahren zu können. Mir wäre dabei ja das Verhältnis aus Berg hochwandern und dem eigentlichen Skifahren zu ungleich – aber jedem das seine!
Mittwoch 27.08.2025
Noch vor Sonnenaufgang verlasse ich die Cabaña und mache mich auf den Weg zum „Loma del Pliegue Tumbado“-Trail. Der 1550 Meter hohe Berg ist bekannt für die spektakuläre Panoramaaussicht, die man von seinem Gipfel haben soll – und das Wetter ist perfekt angekündigt! Nach den ersten Kilometern geht die Sonne auf und tüncht den markanten am Horizont sichtbaren „Fritz Roy“ in ein leuchtendes Rot – dort wollte ich übermorgen hin. Auf etwa halber Strecke beginnt der Schnee, erst nur in Form eines kompletten vereisten Trails, später dann mit richtigen Schneefeldern. Durch einen Wald führt der Wanderweg immer weiter in die Höhe, bis ich gegen halb zehn schließlich die Baumgrenze überquere. Ab hier wir der Schnee tiefer – bei jedem Schritt sinke ich knietief ein, der Trail ist nur dank im regelmäßigen Abstand im Schnee steckenden Holzstäben zu erkennen. Ich komme nur langsam voran. Zwei Kilometer vor dem Ziel kreuzt ein breiter Bach meinen Weg. Zwar ist auch dieser mit Eis und Schnee bedeckt, doch beim vorsichtigen Probieren wird klar, dass die Eisschicht nicht dick genug ist, um mich zu tragen und der Bach tiefer, als er auf ersten Blick aussieht. Ich versuche mich an einer anderen Stelle der Überquerung, doch sacke auch hier in den Schnee und damit in das Wasser unter diesem ein – meine Füße sind nass! Schritt für Schritt quäle ich mich die letzten Kilometer durch den Tiefschnee, bis zu einem Aussichtspunkt. Meiner Wanderapp nach geht es von hier noch einen weiteren Kilometer zum Gipfel, doch ein im Schnee steckendes „Fin del Sendero“-Schild und vor allem, das Fehlen weiterer den Trail markierender Holzstäbe, halten mich davon ab, bis zum Gipfel zu gehen. Wofür auch? Bereits von hier ist Aussicht erstklassig! Auf dem Rückweg komme ich auf die Idee, dass ich ja einfach auf meinem Hintern den Berg hinunterrutschen könne, doch der Schnee stellt sich als zu weich heraus, sodass ich doch laufen muss – Schade! Bereits um vierzehn Uhr bin ich von dem als „Tageswanderung“ ausgeschriebenen Trail zurück und verspüre, nach einer kleinen Pause in der Cabaña, Lust noch eine zweite Wanderung zu machen. Am späten Nachmittag mache ich mich also auf den Weg zu einem Wasserfall, der ein Stück außerhalb El Chalténs liegen soll. Ich bin ziemlich überrascht, als ich am Ende des nicht sonderlich populären Trails einen beindruckenden 30 Meter hohen Wasserfall vorfinde – in anderen Orten wäre so ein Wasserfall eine Top-Attraktion, in El Chaltén ist er nur unwesentliches Beiwerk. Auf dem Rückweg vom Wasserfall beginnen meine Beine schwerer zu werden, erschöpft schaffe ich es in die Cabaña, wo ich müde ins Bett falle.
Donnerstag 28.08.2025
Heute sollte es direkt auf die nächste Wanderung gehen: Einen Drei-Tages-Trail. Naja, eigentlich handelt es sich dabei um zwei lange Tageswanderungen, doch ich hatte mich entscheiden diese zu einer Mehrtageswanderung zu kombinieren. Nicht nur würde ich mir so die Kosten für zwei Übernachtungen sparen, vor allem hatte das den Vorteil, dass ich jeweils zu Sonnenauf- und Untergang an den Aussichtspunkten war. Da ich gegen Mittag noch eine Nachhilfestunde geben soll, nutze ich den Vormittag zur Vorbereitung: Ich schreibe den neusten Blog-Beitrag fertig und terminierte ihn so, dass er sich pünktlich am Samstag automatisch veröffentlichen würde, sortiere alle nicht für die Wanderung nötigen Dinge aus meinem Rucksack aus und lasse sie in der Unterkunft verstauen und gehe schließlich noch einmal Vorräte kaufen. Als ich in den kleinen Supermarkt komme, fällt mir die Kinnlade runter: Viele Produkte waren heute gut 30% teurer als noch vor zwei Tagen. Eigentlich sollte mich das nicht wundern: Die Saison begann, Tag um Tag kamen ein wenig mehr Touristen nach El Chaltén, und steigende Nachfrage führt bei einem gleichbleibenden Angebot eben zu einem erhöhten Preis – trotzdem schockt mich das Ausmaß! Nach erfolgreichem Absolvieren der Nachhilfestunde, schultere ich meinen Rucksack und laufe zum Trailhead. Steil führt der Wanderweg aus dem Ort heraus, die Mittagssonne treibt mir in meinen dicken Klamotten den Schweiß aus den Poren. Nach dem ersten Anstieg nimmt die Steigung bald ab, gemütlich wandere ich weiter durch die einzigartige Waldlandschaft des Nationalparks. Gegen 16 Uhr erreiche Ich das am Fuße des Fritz Roy gelegene „Camp Poicenot“. Im Sommer drängt sich auf dem Campingplatz ein Zelt an das nächste, zu dieser Jahreszeit habe ich den ganzen Platz für mich allein. Wobei von einem Campingplatz zu sprechen vielleicht übertrieben ist: Ein Waldstück mit einem Plumpsklo und einem Waschbecken –das wars! Nachdem mein Zelt steht, überlege ich zum Sonnenuntergang zur anderthalb Stunden entfernten „Laguna de los Tres“ aufzusteigen. Doch der Weg ist steil und vereist – und ich müsste ihn im Dunklen wieder hinabkraxeln. Ich entscheide mich für einen ruhigen Abend an der Campsite. Morgen früh könnte ich dann mit neuer Energie zur Lagune wandern, wenn sich der Fritz Roy hinter der Lagune beim Sonnenaufgang rot verfärbte.
Freitag 29.08.2025
Um halb sechs klingelt mein Wecker und ich quäle mich aus meinem warmen Schlafsack in die eisige Nacht. Im Licht meiner Stirnlampe folge ich dem schmalen Weg erst durch ein Flussbett hindurch und dann in die Höhe. Eine spiegelglatte Eisdecke liegt auf dem steilen Trail. Eigentlich sind für diesen Steigeisen vorgeschrieben, doch ich hatte mir nur für das kurze Stück nicht extra, welche ausleihen wollen. Mit höchster Konzentration suche ich nach den wenigen nicht vereisten Stellen, an denen meine Füße halt finden können und balanciere auf diesen den Wanderweg hinauf. Nach einer Stunde erreiche ich die Schneegrenze und damit ein zum Wandern geeigneteren Untergrund. Nach dem letzten Kilometer stehe ich dann vor der „Laguna de los Tres“. Nur ein anderer Wanderer hatte sich um die frühe Stunde hierher verirrt. Langsam geht hinter uns die Sonne auf und tüncht die das vor uns liegende Fritz Roy Massiv in ein leuchtendes Rot. Als es ein wenig heller wird sehe ich, dass jemand neben einem großen Felsen sein Zelt aufgeschlagen hatte. Sofort werde ich neidisch: Warum hatte ich nicht hier gezeltet? Doch meinen schweren Rucksack hier hoch zu schleppen wäre keine Freude gewesen – mal abgesehen von der Kälte. Es dauert eine gefühlte Ewigkeit, bis die Sonne es endlich über den Horizont schafft und meinen bibbernden Körper ein wenig Wärme spendet. Der Abstieg ist nicht unbedingt einfacher als der Aufstieg: Zwar ist ein Teil des Eises inzwischen angetaut, dennoch schlittere ich einen Großteil des Weges in kniender Position hinab, um nicht den Halt zu verlieren und zu stürzen. Wieder am Camp angekommen, baue ich mein Zelt ab. Inzwischen hatte die Sonne so viel Kraft, dass ich sowohl Jacke, als auch meinen Pullover ausziehen kann. Mehrere Stunden wandere ich an vereisten Seelandschaften entlang in Richtung des „Torre Valley“ durch welches hindurch ich am späten Nachmittag zum zweiten Highlight der Tour gelange – der „Laguna Torre“. Während des gesamten Weges begegnen mir nur eine Handvoll anderer Wanderer. Hinter der Gletscherlagune, in der einige Eisberge schwimmen, ragen die markanten Felsstachel der gleichnamigen Gebirgskette in die Höhe. Auch hier gibt es theoretisch wieder eine Campsite, doch auch hier liegt diese wieder etwas vom Aussichtspunkt entfernt in einem Waldstück. Inspiriert von den Wildcampern heute Morgen am Fritz Roy, schlage ich mein Zelt also nicht auf der dafür vorgesehenen Fläche, sondern mit traumhaftem Ausblick direkt auf der Gletschermoräne auf.
Samstag 30.08.2025
Einen weiteren Morgen darf ich einen traumhaften Sonnenaufgang genießen – und heute muss ich dafür nicht einmal kraxeln. Zügig packe ich, als die kunstvolle Lichtstimmung verschwindet, mein Zelt zusammen und verlasse noch bevor irgendein anderer Wanderer die Lagune erreichen könnte meinen Schlafplatz spurlos. Gerade in einem Nationalpark geht wildcampen immer mit einem gewissen Risiko einher. Zurück nach El Chaltén sind es nur etwa drei Stunden, die es meist auf flachen Wegen durchs Gelände geht. In der Cabaña, in der bisher nur der Spanier und ich gewesen waren, sind nun alle Betten belegt. Viele Geschäfte, die vor wenigen Tagen noch geschlossen waren, öffneten ihre Türen – die Saison ging los! Für mich stellt sich die Frage, was ich weiter vorhabe. Alle gängigen Trails, die es in El Chaltén gibt, hatte ich absolviert. Einzig und allein der „Huemul Circuit“, eine anspruchsvolle Viertageswanderung, würde mich noch reizen. Er gilt als einer der schönsten Treks Patagoniens und bietet an einem Punkt sogar Aussichten über das südpatagonische Eisschild. Doch auf den beiden Pässen, über die der Trail führt, liegt zu viel Schnee, um diese überqueren zu können. Und so beschließe ich schon morgen weiterzuziehen …
Sonntag 31.08.2025
Langsam packe ich meine Sachen und genieße für ein paar letzte Stunden die wohlige Wärme in der Cabaña. Nach dem Frühstück rufe ich dann noch bei meinen Eltern an, bevor ich mich auf den Weg zur aus El Chaltén herausführenden Straße mache. Eine ganze Weile muss ich dort warten, bis endlich ein Auto anhält. Ich quetsche mich zu einem südkoreanischen Tramper auf die Rückbank, mein Rucksack auf dem Schoß. Nach einer Dreiviertelstunde lässt man mich an einer einsamen Straßenkreuzung der Ruta 40 raus. Etwa 3000 Kilometer – meist auf schmalen Bergstraßen – sind es von hier bis nach Santiago, der Hauptstadt Chiles, meinem nächsten größeren Ziel. Zwei Stunden stehe ich mir die Beine in den Bauch, gerade einmal drei Autos biegen in diesem Zeitraum in die richtige Richtung ab, um mich potenziell mitnehmen zu können – doch dazu ist scheinbar keiner gewillt. Nach einer weiteren Stunde hält endlich ein schwarzer Audi. Am Steuer sitzt ein älterer Mann mit schulterlangen grauen Haaren. Er trägt eine Lederjacke, spricht mit kratziger Stimme und bietet mir an, mich in die kleine 30 Kilometer entfernte Ortschaft „Tres Lagos“ mitzunehmen. Um weiterzukommen, bringt mir das nicht viel, doch die Idee immerhin in einer Ortschaft mit kleinem Supermarkt und vielleicht sogar Internet festzustecken, sagt mir mehr zu als die einsame Straßenkreuzung. In Tres Lagos steht ein großes „Route closed“-Schild auf der Straße. Mist! Was jetzt? Die Ruta 40 ist die einzige Fernstraße auf der Westseite Patagoniens – wenn ich hier nicht weiterkäme, müsste ich nach Rio Gallegos umkehren wieder die Nationalstraße 3, auf welcher Ich vor einigen Wochen gen Süden gereist war, nehmen. Das war nicht nur ein riesiger Umweg von vielen hundert Kilometern, es war auch – so fand ich – ziemlich langweilig auf demselben Weg zurückzukehren, auf dem ich gekommen war. Ab und zu fährt ein Auto an dem Schild vorbei und lässt mich so darauf schließen, dass man das Schild vielleicht einfach nur auf der Straße vergessen hatte. Doch unter den knapp zehn Autos, die im Laufe des restlichen Tages, die Straße zu nutzen scheinen, findet sich niemand der mich mitnimmt. Stunde um Stunde stehe ich im eiskalten Wild am Ortsausgang, bis schließlich die Sonne untergeht und ich mein Zelt etwas außerhalb der Ortschaft auf einem Grillplatz aufschlage.
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