Montag 01.09.2025
Nachdem ich von meinem Übernachtungsplatz zurück in den Ort gelaufen bin, mache ich mich auf die Suche nach Internet – bei der Tourist-Information des kleinen Dorfes werde ich fündig. Hier bestätigt man mir, dass die Straße definitiv offen sei. Eine kleine Online-Recherche ergibt, dass ich mit meinen Tramp-Schwierigkeiten hier nicht allein sei: Auf „hitchwiki“, einer Website mit Infos zum Trampen an verschiedenen Orten, heißt es: Die Ruta 40 sei „reputed to be hellish to hitch on“. Mehrere Tage auf einen Lift zu warten sei hier nicht unüblich, man sei „wahnsinnig“ die Straße außerhalb der Sommersaison entlangtrampen zu wollen. Ups! Noch dazu kommt, dass der vor mir liegende Abschnitt der schwierigste der Fernstraße sei. Ein 73 Kilometer langes ungeteertes Stück auf dem Weg in die nächste Stadt hat aufgrund zahlreicher Unfälle und Fahrzeugschäden, die es regelmäßig fordert, den Namen „Los 73 Malditos“ bekommen. Meine Suche nach Bussen, die diese Route fahren, bleibt ergebnislos und so bleibt mir nicht viel anderes übrig als mich – wenn auch nicht wirklich hoffnungsvoll – an den Ortsausgang zu stellen. Am frühen Nachmittag setzte ich mich erneut für eine Stunde in die Tourist-Info, um eine Nachhilfestunde zu geben. Als ich im Anschluss wieder zu meinen Trampspot laufe, steht dort bereits jemand. Der in Norwegen lebende Argentinier ist auf dem Weg nach Bariloche und zeigt sich überrascht, als ich ihm von der Erfahrung meiner vergangenen 24 Stunden berichte. Bis die Sonne untergeht, stehen wir gemeinsam an der Straße – der Erfolg bleibt weiterhin aus. Als ich am Abend ein zweites Mal mein Zelt an dem kleinen Grillplatz außerhalb des Ortes aufschlage, bin ich deprimiert: Über den ganzen Tag verteilt waren gerade einmal 20 Autos vorbeigekommen. Der Argentinier hatte schließlich beschlossen nach El Calafate umzudrehen, um nach Bariloche zu fliegen – das war nämlich lächerlich günstig. Und ich? Ich konnte nicht fliegen – so gerne ich das gerade getan hätte. Ich könnte umkehren und die Nationalstraße 3, die ich gen Süden getrampt war, zurücktrampen. Oder ich könnte einen mit 100 Euro die Hälfte meines gesamten Budgets kostenden HHBus entlang dieser nehmen. So oder so wären aber alle meine Zeit- und Routenpläne im Eimer, wenn ich umdrehen müsste. Ich war gewillt einen weiteren Tag zu warten – allerdings nicht, wenn drei Tage auf einen Lift warten der neue Standard wäre. Doch genau das befürchtete ich langsam, denn ein Großteil meiner weiteren Route hatte ich entlang einer schmalen ungeteerten Bergstraße geplant – dagegen war das hier noch eine Autobahn.
Dienstag 02.09.2025
Schwermütig hatte ich mich durchgerungen einen dritten Tag infolge am Ortsausgang von „Tres Lagos“ zu warten und – zumindest bis Mittag – noch einmal mein Glück zu versuchen. Der Verkehr hält sich, wie schon die vergangenen Tage in Grenzen. Immer wenn sich vom Horizont ein Auto nähert, steigt die Hoffnung kurz an, schwindet dann meist aber schlagartig, wenn das Fahrzeug in eine der Straßen des kleinen Dorfes abbiegt. Es ist kurz nach zehn – inzwischen sind über 42 Stunden vergangen, seit ich in Tres Lagos angekommen war – als ein schwarzer Kleinwagen nicht abbiegt, sondern geradewegs auf den Ortsausgang zusteuert. Hektisch springe ich auf, nehme mein „Gobernador Georges“-Schild in die Hand und bekomme fast Tränen in den Augen, als das Auto ein paar Meter hinter mir stehen bleibt – ein junges Pärchen erlöst mich! Und es kommt noch besser: Sie fahren nicht nur bis Gobernador Gregores, sondern können mich bis in die über 500 Kilometer entfernte Stadt „Perito Moreno“ mitnehmen – das ewige Warten hatte sich gelohnt. Während der Fahrt versorgt man mich mit Mate und Backwaren. Auf den „Los 73 Malditos“ platzt uns – wie soll es auch anders sein – der rechte Hinterreifen, aber Reifen wechseln ist ja kein Hexenwerk und die Autowerkstatt, in der wir in Gobernador Gregores halten, ist das Austauschen defekter Reifen auch gewohnt. Nach vielen Stunden Fahrt auf schlechten Straßen, dafür aber mit guten Aussichten, kommen wir am späten Nachmittag schließlich in Perito Moreno an. Ich freue mich endlich wieder einen richtigen Supermarkt und eine der blauen YPF-Tankstellen zu sehen. Und noch etwas gibt es in Perito Moreno: Die scheinbar einzige preiswerte Wäscherei ganz Patagoniens. Ich gebe – bis auf eine Badehose, ein T-Shirt und meine Regenjacke – meine gesamte Kleidung dort ab, setzte mich den Abend über mit meinem Laptop in die Tankstelle und schlage schließlich mein Zelt hinter dieser auf.
Mittwoch 03.09.2025
Ohne Thermoklamotten und Pullover wird es in der Nacht eisig kalt. Ich bekomme kaum ein Auge zu und liege stundenlang fröstelnd in meinem Schlafsack. Als am Morgen endlich die Sonne aufgeht jogge ich, fragende Blicke erntend, zum Supermarkt, bevor ich um zehn Uhr dann endlich zur Wäscherei gehen kann und dort meine noch warmen, frisch gewaschenen Klamotten wiederbekomme. Nach mehr als einem Monat in Argentinien plante ich das Land heute zu verlassen und nach Chile einzureisen. Ich stehe seit über einer Stunde an der Straße, als zwei andere Tramper kommen und sich 100 Meter vor mir am Straßenrand positionieren – das gehört sich nicht! Kurzentschlossen schultere ich meinen Rucksack, laufe an ihnen vorbei und werde direkt vor ihrer Nase von einem Fahrschulauto eingesammelt. In dem letzten argentinischen Dorf wechsle ich meine verbleibenden argentinischen Pesos in ihr mit schicken Motiven bedrucktes, chilenisches Äquivalent um und passiere dann den ersten Grenzposten. Wie schon an den anderen vier argentinisch-chilenischen Grenzen, die ich in den letzten Wochen gekreuzt hatte, hat man auch hier die Grenzposten der beiden Länder nicht direkt nebeneinander, sondern mit einer Handvoll Kilometern Abstand dazwischen gebaut – Was soll das?! Genervt laufe ich die trostlose Straße durchs Niemandsland, bis nach einem Drittel der Strecke schließlich die Fahrerin eines Pick-Ups Mitleid hat und mir einen Lift gibt. Die kleine Ortschaft „Chile Chico“ auf der chilenischen Seite der Grenze liegt an einem wunderschönen tiefblauen See mit felsiger Küste. Anderthalb Stunden warte ich an der nicht sonderlich viel frequentierten, von hier weiterführenden Schotterstraße, beschließe dann allerdings für die Nacht in Chile Chico zu bleiben und quartiere mich auf einem kleinen Campingplatz ein.
Donnerstag 04.09.2025
Mit dem Sonnenaufgang baue ich mein Zelt ab und gebe der Schotterstraße am Ortsausgang einen zweiten Anlauf. Nach einer halben Stunde hält eine Frau und bietet mir an mich einige Kilometer mitzunehmen. Die Straße führt in engen Kurven durch die felsige Landschaft. Immer wieder bekommt man atemberaubende Blicke auf den „Lago General Carrera“ mit den hinter ihm in die Höhe ragenden schneebedeckten Gipfeln der Anden. Die „Carreta Austral“ ist das chilenische Pendant zur Ruta 40, verläuft allerdings nicht parallel zu, sondern mitten durch die Berg- und Fjordlandschaft der südlichen Anden. Mehr Kurven, weniger Asphalt und spektakuläre Aussichten machen die Panoramastraße besonders bei Fahrradreisenden zu einer beliebten Strecke und hatten auch mich – trotz der Negativerfahrungen zu Beginn der Woche – hierhergezogen. Mein Lift endet in einem winzigen Dorf mit gerade einmal einem Dutzend Häusern. Die Betreiberin des lokalen Tante-Emma-Lädchens, in dem ich mir etwas Brot zum Frühstück kaufe, gibt mir kurz einen Internet-Hotspot – so sehe ich, dass die für den Nachmittag geplante Nachhilfestunde abgesagt ist und kann ohne mir Sorgen um die Verfügbarkeit von WLAN machen zu müssen weiterziehen. In der nächsten Ortschaft gibt es eine kleine Bäckerei, welche einigen Zeitungsartikeln zufolge die besten Empanadas in Chile macht. In der Tür hängt ein „cerrado“-Schild, doch als ich durchs Fenster linse, macht mir eine ältere Dame auf. Sie hätte heute nur ein paar süße Empanadas gemacht, entschuldigt sie sich. Gespannt – bisher hatte ich nur die herzhafte Variante gegessen – kaufe ich einen und bin mehr als positiv überrascht, als ich in die mit einer Apfel-Zimt-Füllung gefüllten Teigtasche beiße – die Zeitungsartikel hatten recht! Mit drei weiteren Lifts gelange ich nach „Puerto Rio Tranquillo“. Von dort kann man mittels Bootstour zu einigen Marmorhöhlen fahren, die sich in den Felsen an der Küste des Sees befinden – das wollte ich morgen machen! Für heute freute ich mich erst einmal auf einen gut bewerteten Campingplatz, der mit einem beheizten Aufenthaltsraum punkten sollte. Doch leider enttäuscht der Campingplatz: Der Kamin im Aufenthaltsraum ist stillgelegt und auch die heiße Dusche, auf die Ich seit mehreren Tagen hoffte, ist nur lauwarmes aus dem Schlauch tröpfelndes Rinnsal.
Freitag 05.09.2025
Neben dem Bootsanleger von Puerto Rio Tranquillo stehen, in zwei langen Reihen nebeneinander die kleinen Verkaufsstände der Bootstour-Anbieter. Die Freiheit mir einen Anbieter auszusuchen habe ich allerdings nicht, denn zu dieser Jahreszeit ist die Anzahl an Touristen, die sich hierher verirren, überschaubar und alle Touranbieter des Ortes arbeiten zusammen, um überhaupt genügend Leute für eine Bootstour zu sammeln. Gegen Mittag hoffe man eine Tour starten zu können, erzählt mir ein junger Mann. So lange kehre ich also erstmal zu einem zweiten Frühstück auf meinen Campingplatz zurück. Um 14 Uhr steigen ich und eine Handvoll andere Leute mit Rettungswesten ausgestattet in das kleine Motorboot. Etwa zehn Minuten fahren wir mit Vollspeed über den See, bis wir die ersten Höhlen erreichen. Die Felsen am Seeufer bestehen aus gemasertem Marmor in verschiedenen Farbtönen, welcher von den Lichtreflexionen in Szene gesetzt wird. Es gibt einen kleinen Marmortunnel, eine -kathedrale, eine -kapelle und Steinformationen, die – mit ein wenig Fantasie – verschiedene Figuren darstellen. Nach zwei Stunden legen wir wieder an und ich ziehe mich auf den Campingplatz zurück, um noch ein wenig an meinem Blog zu schreiben, bevor die Sonne verschwand und es dazu zu kalt wurde. Am Abend genieße Ich den Sonnenuntergang über dem Lago General Carrera und kuschle mich dann in meinen Schlafsack.
Samstag 06.09.2025
Gemütlich packe ich am Morgen meine Sachen, frühstücke und stelle mich dann an den Ortsausgang von Puerto Rio Tranquillo. Es dauert nicht mehr als eine halbe Stunde, bis ein SUV mit einem freundlichen Mann darin hält und mich mitnimmt. Mein Fahrer arbeitet im Vertrieb für die Firma WÜRTH und ist auf dem Weg zu einem Kunden. Nach dem Termin würde er weiter in Richtung meines Zielorts fahren, also warte ich, während er dem Eigner eines Minimarkets sein Produktsortiment vorstellt. Auf der weiteren Strecke bieten sich immer wieder grandiose Aussichten, bereitwillig hält mein Fahrer dann an und kraxelt mit mir durchs Gelände, um die beste Perspektive für Fotos zu finden. Gegen Mittag erreichen wir Cerro Castillo (ja, diesen Namen scheint es öfter zu geben). Der Ort soll ein beliebtes Wanderdomizil sein und so plante ich hier eine Nacht zu verbringen. Mein Fahrer erzählt mir allerdings, dass es nur eine einzige 8h-Wanderung gebe, die man hier machen könne – und für diese müsse man noch knapp 25 Euro bezahlen, denn in Chile ist es typisch, dass man eine „Nutzungsgebühr“ bezahlt, wenn ein Wanderweg privates Land kreuzt. Schnell verstauen wir meinen gerade aufgeladenen Rucksack also wieder im Kofferraum und ich fahre mit ihm eine weitere Stunde bis nach „Coyhaique“, der Provinzhauptstadt der Region. Anders als in den recht ausgestorbenen kleinen Dörfern herrscht in Coyhaique Leben. Unzählige Menschen genießen das sonnige Wetter, Straßenhändler versorgen einen mit Churros, Empandas und Popcorn. Nach einer Woche, die ich inzwischen am Stück bei den winterlichen Temperaturen draußen geschlafen hatte, lechzt es mir nach einer warmen Unterkunft, doch Hostels in Coyhaique sind teuer. Auf der Karte entdecke ich eine preiswerte, speziell an Fahrradreisende gerichtete Unterkunft in einer Ortschaft 150 Kilometer weiter nördlich und mache mich unmittelbar auf den Weg zur Straße, um die Distanz dorthin heute noch ein wenig zu verkürzen. Ein junger Local in einem alten Peugeot Pick-Up sammelt mich ein und fährt mit mir durch die einzigartige, von der untergehenden Sonne in goldenes Licht getauchte Berglandschaft. Man drückt mir ein Bier in die Hand, das Radio ist voll aufgedreht, der Motor des alten Pick-Ups tuckert, ein breites Grinsen zaubert sich auf mein Gesicht. Nach fünfzig Kilometern steige ich an einer Kreuzung aus und schlage mein Zelt an einem nahegelegenen Fluss auf.
Sonntag 07.09.2025
Dichter Nebel verleiht dem Bergpanorama, in dem mein eingefrorenes Zelt steht, eine düstere Stimmung. Zügig packe ich meine Sachen zusammen und positioniere mich an der Straßenkreuzung. Es herrscht kaum Verkehr; je länger ich an der Straße stehe, desto mehr knurrt mein Magen – aber die Kreuzung befindet sich mitten im Nirgendwo. Nach über anderthalb Stunden hält endlich ein Auto an und nimmt mich mit in das nächste Dorf. Nachdem ich gefrühstückt habe, muss ich erneut eine ganze Weile warten, bis ein als Schulbus fungierender Mercedes Van anhält. Der Ort „Villa Mañihuales“ besteht gerade einmal aus vier Straßen, in einer von ihnen mache ich die „Casa de Ciclistas“ ausfindig. In einem aus OSB-Platten zusammengeschusterten Schuppen stehen sechs Stockbetten, in ihrer Mitte ein Holzofen um den Wäscheleinen zum Trocknen nasser Kleidung gespannt sind. Nicht gerade luxuriös und doch gibt es alles, was das Herz eines Low-Budget-Reisenden begehrt. Es ist warm, ich darf die Küche des neben dem Schuppen stehenden Wohnhauses mitnutzen, und es gibt wunderbar schnelles WLAN – vielleicht das schnellste auf meiner gesamten Reise! Den restlichen Tag verbringe ich in meinem warmen Bett liegend, telefoniere mit meiner Familie, trockne mein nasses Zelt, sichere meine Fotos und schreibe meinen Blog.
Hinterlasse einen Kommentar
An der Diskussion beteiligen?Hinterlasse uns deinen Kommentar!