Montag 17.03.2025 – Kollisionskurs
Nach über einem Monat auf See nehmen die Langeweile und Eintönigkeit des monotonen Bordalltags neue Züge an. Das Ich mit meinem Rucksack durch die Welt gezogen bin, ist inzwischen mehr als vier Monate – ein Drittel Jahr – her. Mir kribbelt es in den Fingern: Ich will wieder raus, von Ort zu Ort reisen, neue Länder, neue Kulturen und neue Menschen kennenlernen – meine Vorfreude auf Südamerika ist unglaublich groß und zugleich ist mir klar, dass es noch mehr als einen Monat dauern würde, bis ich tatsächlich einen Fuß auf das südamerikanische Festland setzen könne. In meiner Langeweile bilde ich mich schonmal etwas in puncto Fähren von Trinidad nach Venezuela. Zwischen dem karibischen Inselstaat Trinidad & Tobago, wo ich Mitte April meine Familie empfangen würde, und Südamerika lagen nämlich noch einmal einige Kilometer Wasser – und aufgrund der Sicherheitslage in Venezuela, hielt sich die Anzahl der dort fahrenden Fähren in überschaubaren Grenzen. Genauer gesagt gibt es exakt einen momentan aktiven Fährservice, der alle zwei Wochen von Trinidad in ein venezolanisches Dschungeldorf fährt. Seines Monopols ist sich der Anbieter scheinbar bewusst und verlangt für die dreistündige Fahrt stolze 250 US-Dollar. Autsch! Meine Nachtschicht verläuft ruhig – zumindest so lange bis auf einmal ein fremdes Schiff auf unserem Radar auftaucht: Ein Fischkutter a;thält direkten Kollisionskurs auf uns. Mein Puls schnellt mit jeder Minute, die wir aufeinander zufahren in die Höhe. Das Radar kann nicht sicher sagen, auf welcher Seite der Kutter uns passieren würde, und auch mit dem Fernglas lässt sich nur schemenhaft erkennen, was die Pläne des Schiffes sind. Ich muss eine Entscheidung treffen – Steuerbord oder Backbord? Eine Alarmmeldung fängt an zu piepen. Rabiat korrigiere ich unseren Kurs nach oben und halte den Atem an während der Abstand zwischen uns und dem Kutter immer weiter sinkt. Gerade einmal eine halbe Seemeile von uns entfernt zieht der Fischkutter auf unserer Backbordseite vorbei – das war knapp!
Dienstag 18.03.2025 – Schmutzwasser
Den Vormittag über tippe ich etwas an meinem Blog – doch irgendwann ist der fertig und ich habe nichts mehr zu tun. Glücklicherweise bin ich mit meiner Langeweile nicht allein und so spiele ich mit Ilya und Yury ein russisches Kartenspiel. Die Wasserfarbe hatte sich im Laufe des Tages von einem intensiven Blau zu einem Grau-Braun verändert, auf der Wasseroberfläche schwammen riesige Algenteppiche, von denen ein unangenehmer Geruch ausging. „So hab ich mir die Karibik nicht vorgestellt!“ scherze ich, doch die Veränderungen sind keine Vorboten der Karibik, sondern lediglich eine Folge davon, dass das Amazonasdelta – das größte Flussdelta der Welt – sich unweit von uns in den Atlantik ergießt.
Mittwoch 19.03.2025 – Magic Carpet
Mit Rettungsweste um den Hals und großen Augen weckt mich Yury am frühen Morgen und erklärt mir panisch, dass ich an Deck gebraucht würde. Hastig ziehe ich mir meine Klamotten über und stehe keine Minute später im Cockpit. Dort klärt Ilya mich auf: Der Wind habe über Nacht zugenommen – fast 30 Knoten, wir müssten unverzüglich das Großsegel reffen! Ich klettere also – der in die Höhe spritzenden Gischt entgegen – auf das Vordeck und mache dort jene Handgriffe, die ich inzwischen aus dem Effeff kannte. Nach nur zehn Minuten ist die Gefahr gebändigt und ich verziehe mich wieder mein Bett. Der restliche Tag verläuft ruhig. Seemeile um Seemeile nähern wir uns dem karibischen Meer. Neben dem Wind, der uns schon seit Tagen mit hohen Geschwindigkeiten vorwärtsbringt, verläuft entlang der südamerikanischen Küste auch eine Strömung die uns wie ein magischer Teppich nochmals zusätzliche zwei bis drei Knoten beschert.
Donnerstag 20.03.2025 – Struggles
Mit fortschreitender Langeweile widme ich mich auch den Dingen, vor denen ich mich sonst drücke – den Vormittag über schreibe ich fleißig an meinem Blog. Nachdem ich erst Dienstag den letzten Beitrag veröffentlicht hatte, hatte ich nun bereits den nächsten fertig. Bei einem Blick auf den Kartenplotter stelle ich fest, dass unsere Route nach Grenada genau durch Tobago führt. Innerlich überlege ich derweil, ob es nicht vielleicht doch sinnvoller wäre, bereits auf jener Insel von Bord zu gehen, auf der mich meine Familie in drei Wochen besuchen kommen würde. Doch ich bin unentschlossen. Ich hätte keine Lust drei Wochen auf einer kleinen Insel zu warten. Zugleich konnte schwer einschätzten, wie leicht es sein würde von Grenada zurück nach Trinidad & Tobago zu kommen. Sollte mir das, einmal auf Grenada angekommen, nämlich nicht innerhalb von zwei Wochen gelingen, so drohte mein Traum von der flugzeuglosen Weltreise doch noch zu platzen. Den ganzen Tag über befinde ich mich in einem heftigen Zwiespalt – meine Meinung zu der Frage und so stabil wie ein Fähnchen im Wind. Am Nachmittag lenkt mich für 60 Minuten eine Nachhilfestunde mit meiner Schweizer Schülerin von meinem Gedanken-Chaos ab, doch auch danach lässt mir der Blick auf den Kartenplotter keine Ruhe. Grenada? oder direkt nach Tobago? – ich weiß es einfach nicht.
Freitag 21.03.2025 – Kurswechsel
Die kleine Insel Tobago liegt inzwischen keine fünfzig Seemeilen mehr von uns entfernt – und mit jedem Meter, dem wir uns der Insel nähern, desto stärker werden in mir die Zweifel: Die Idee hautnah an Tobago vorbei nach Grenada zu segeln und dort dann unter enormen Zeitdruck wieder ein Boot zu suchen, dass mich zurück mit nach Tobago nimmt, kam wir immer dämlicher vor. Sollte ich Ilya vielleicht doch fragen, ob er mich doch schon auf Tobago absetzen kann?! Zwiegespalten recherchiere ich noch einmal nach möglichen Fährverbindungen zwischen den beiden Inseln und stoße dabei auf ein YouTube-Video eines deutschen Reisenden, dem es vor wenigen Monaten gelungen war auf einem Fischkutter in die Gegenrichtung – von Trinidad nach Grenada – zu trampen. Das gibt Zuversicht! Ich schreibe eine kurze Nachricht an Tilo (@tilothepilgrim) – den YouTuber, von dem das Video stammte – und erhalte unverzüglich eine Sprachnachricht, in der mir der junge Content-Creator erklärt, was ich sowieso schon weiß „Lauf einfach in Grenada die Häfen ab, sprich jeden an der dir übern Weg läuft an und knüpfe so viele Kontakte wie möglich, dann wir das schon irgendwie“. Auch wenn dieses Vorgehen nichts Neues für mich ist, gibt mir die Erinnerung an jene Grundlagen, die mich schon von Deutschland nach Südafrika und von dort über den Atlantik gebracht hatten, auf einmal wieder absolute Ruhe – irgendwie würde ich schon von Grenada nach Tobago kommen, irgendwie hatte bisher schließlich aller funktioniert. Wenige Minuten später dreht der Wind. Entweder wir müssten auf unser Spinnaker-Segel wechseln – jenes Segel, welches bisher fast nur Probleme bereitet hatte – oder wir würden unseren Kurs ändern. Da wir sowieso noch einige Tage Zeit hätten, bis das Boot in Grenada kielgeholt werden würde, schlage ich vor zu den „Tobago Cays“ zu segeln – einem der bekanntesten Archipele der gesamten Karibik, welches unter den neuen Wind-Voraussetzungen genau auf unserem Kurs lag. Überraschend schnell habe ich Ilya überzeugt und wir passen den Kurs an – die Option doch schon in Tobago auszusteigen fällt damit endgültig weg, doch das macht mir auf einmal gar keinen Sogen mehr. Nur kurz nach dem Kurswechsel, klingelt mein Telefon – Tilo ruft an. Über eine Stunde lang telefoniere ich mit dem Weltreisenden und wir tauschen uns über unsere Pläne und Erfahrungen aus. Am Telefon klingt Tilo etwas demütiger als in seiner Sprachnachricht – „Zwei Wochen sind, um ein Boot zu finden schon echt ambitioniert! Bei mir hat es fast zwei Monate gedauert, bis ich irgendein Boot gefunden habe, mit dem ich wieder von Trinidad heruntergekommen bin“ – doch aus irgendeinem Grund hält sich meine optimistische Einstellung. Naja, etwas anderes, blieb mir nun auch nicht mehr übrig …
Samstag 22.03.2025 – Tobago Cays
Mit den ersten Sonnenstrahlen tauchen am Horizont die Umrisse der „Tobago Cays“ und der daneben liegenden „Union Island“ auf. Das kleine, als „Perle der Karibik“ bekannte Atoll gehört zu St. Vincent und den Grenadinen. Eigentlich müssten wir für unseren kurzen Besuch also in den Inselstaat einklarieren, doch Ilya hatte sich dagegen entschieden – die Immigration würde uns inklusive des Abstechers zum nächsten „Port of Entry“ schätzungsweise mehr als fünf Stunden kosten – das lohne sich nur für eine Nacht nicht. Langsam schippern wir mit unserem Katamaran zwischen den der Küste vorgelagerten Korallenriffen hindurch. Glasklares, türkisblaues Wasser, palmengesäumte Sandstrände, blauer sonniger Himmel, eine kleine Cocktailbar, eine Menge Segelboote – die Tobago Cays sind genau das, was man sich unter der Karibik vorstellt: Ein Paradies. Nachdem wir einen guten Ankerplatz gefunden haben und eine Runde schwimmen waren, fahren wir mit dem Dinghy zu einem der Riffe. Bewaffnet mit Tauchmaske und Schnorchel entdecken wir dort Schildkröten, Rochen, Seeigel und unzählige kleinere bunte Fische. Nach dem Mittagessen kehrt Ruhe auf dem Boot ein: Ilya macht ein Nickerchen, Yury schnorchelt begeistert vor sich hin und Ich erkunde etwas die winzige Insel. Am Abend verschlägt es Ilya und Yury an die Bar – jene bot ein Buffet mit frischem Hummer an. Mir waren fünfzig US-Dollar für die Mahlzeit zu viel – ich bleibe also auf dem Boot und kreiere mir aus den zahlreichen Resten unserer Überfahrt etwas zu essen. Während dessen poste ich in einigen Facebook-Gruppen, dass ich nach einer Mitfahrgelegenheit von Grenada nach Trinidad & Tobago suchen würde – nachdem ich heute die schiere Masse an Booten gesehen hatte, die hier in der Karibik umher“cruisten“, war ich sehr zuversichtlich, dass ich auf jene nicht lange warten müsste. Als Ilya und Yury mit dem Dinghy zurückkommen, haben sie eine kleine Alufolie-Packung dabei. Die Beiden hatten für mich doch tatsächlich einige frittierte Kochbananen vom Buffet stibitzt – die gab es hier nämlich endlich wieder.
Sonntag 23.03.2025 – Angekommen auf Grenada
Der Pfannkuchen-Fertigmix, mit dem ich die vergangenen Sonntage Pancakes gemacht hatte, war genauso wie unser Weizenmehl alle. Ich versuche mich also daran aus grobkörnigem Vollkornmehl noch ein letztes Mal Pancakes zu zaubern. Im Anschluss lichten wir den Anker und segeln gemächlich nach Carricou. Die kleine Insel gehört bereits zu Grenada und so können wir schon hier einklarieren. Unseren Reisepässen widmet die Beamtin in dem kleinen Immigration-Büro nur einen flüchtigen Blick – viel wichtiger ist ihr die Zahlung der „Cruising-Gebühren“, die es mit makellosen US-Dollar-Noten zu begleichen gilt. Nachdem wir den Einreisestempel bekommen haben, statten wir dem lokalen Supermarkt noch einen Besuch ab – es wäre mal wieder an der Zeit für frisches Obst und Gemüse. Mit dem Sonnenuntergang laufen wir in eine einsame Bucht an der Küste von Grenada ein. Unter dem von der Sonne angestrahlten Wolken ragen mit dichtem Regenwald bedeckte Berge in Richtung Himmel. Mit einem Bier in der Hand gehen wir die letzten Sonnenstrahlen beobachtend in dem spiegelglatten Wasser baden. Wir hatten geschafft! Nach 36 Tagen – das entsprach tatsächlich exakt der ersten Prognose – waren wir auf Grenada angekommen. Am Abend liege ich noch etwas auf dem Trampolin und lese: Timo (@hitchhikertimo) – der Tramper, den ich in Angola getroffen hatte – hatte ein Buch über seine Reise geschrieben. In „Hitchhiking from South Hampton to South Africa“ erzählt er von seiner – der meinen in vielen Punkten sehr ähnlichen – Reise über den afrikanischen Kontinent. (tatsächlich habe ich es sogar zu einer Erwähnung in dem Buch gebracht)